Freihändig
Was würden meine Hände tun, wenn sie nicht gebunden wären?
Sie nähmen sich ihre Freiheit und täten einfach das, was ihnen gerade in den Sinn kommt.
Heute, haben sie beschlossen, ist es soweit:
Sie nehmen ein wohlriechendes Bad, kuscheln sich wohlig in ein weiches Handtuch und trinken zum Frühstück zart duftende Cremes, bevor sie auf die Reise gehen.
Das erste Ziel wird ein Flohmarkt sein, denn dort bekommen sie ganz viele neue Eindrücke.
Auf dem Weg dorthin wandern sie über Wände, ertasten die raue Oberfläche, genießen die Wärme, die die Sonne dort gespeichert hat, für schlechte Tage. Eine Hand streicht weiter über die Kanten, spürt die kleinen Ecken und Risse auf. Die andere streichelt, wie zum Vergleich, über meine Wange. Kleine Gänse laufen mir über die Haut, als sie den Unterschied erfassen.
Endlich reißen sich die Hände los und verstecken sich erst einmal in meinen Taschen, so als wäre ihnen diese Exkursion nicht ganz geheuer. So chauffiere ich sie dann in sicherer Dunkelheit weiter, bis wir am Flohmarkt angelangt sind.
Meine Nase wird ungebührlicherweise gleich mit verwöhnt, denn dieser Flohmarkt bietet auch ein großes kulinarisches Angebot an, und so nimmt sie für mich den Duft von Kaffee, frischen Waffeln, verschiedenen fremdländischen Gerichten und Kräutern auf, die meinen Appetit - und auch die Neugierde meiner Hände anregen.
Fingerfood hat etwas sinnliches an sich. Mehr als ein Candlelight-Dinner, denn da kommen nun wieder die Hände mit ins Spiel. Sie freuen sich schon, und zappeln in den Jackentaschen. Und da ja heute ihr Tag ist, lasse ich sie spielen: Sie greifen, halten fest, streichen, tasten, fühlen und führen - bis mein Magen einen Protest protestiert und auf einer langen Pause besteht.
Nun beginnt das eigentliche Abenteuer: Der verwitterte Lack von alten Möbelstücken, die feinen Absetzungen von bemalten Tellern, das kühle Metall des historisch anmutenden Schmuckkästchens, die rauen Seiten von Erstausgaben, die Farben eines Ölgemäldes - all das erleben sie und nehmen es freudig auf, erleben mit ihrem Tastsinn das, was ich durch meine Augen wahrnehme.
Ich laufe geduldig mit ihnen hin und her und warte darauf, dass sie müde werden.
Aber weit gefehlt.
Selbst als es Zeit wird heimzugehen, sind die Hände immer noch wie aufgedreht. Sie bestehen auf einer langen Duschzeit, bei der sie meinen Körper einseifen. Fast so, als wären sie insgeheim froh, wieder auf bekanntem Terrain zu sein, nehmen sie sich ausgiebig Zeit dafür, bis ich mahnend an den Strom- und Wasserverbrauch erinnere.
So greifen sie widerwillig zum Kran und drehen das Wasser ab, nehmen das weiche Handtuch auf und umwickeln damit meinen Körper. Abtrocknen wollen sie nicht, und mich ankleiden schon gar nicht.
Also ergebe ich mich ihnen und lege mich unbekleidet unter die Decke, die sie aber bald schon ungeduldig zur Seite schieben. Sie wollen ihren Tag bis zum Ende auskosten, und noch habe ich sie nicht wieder einfangen können.
Und so setzen sie die Berührungen fort, die sie unter der Dusche begonnen haben, bis ich endlich - gemeinsam mit ihnen - völlig zufrieden und ermattet einschlafe...